Saga und Vereinsgeschichte

Saga der Unterdorfhexe

Um das Jahr 1810 war Immendingen in zwei Teile geteilt: das Oberdorf auf der Anhöhe, nahe bei Kirche und Herrenhäusern, und das Unterdorf unten am Hang, dichter am Wasser und den Feldern. Man sagte, im Oberdorf wohnten die „Feinen“, im Unterdorf die Handwerker, Tagelöhner und Kräuterweiber.

Im Oberdorf wirkte der Schlehenmann, ein Heiler, der seinen Namen von den Schlehenhecken am Kirchweg hatte. Aus ihren dunklen Beeren kochte er bittere Sude gegen Fieber und Schmerzen. Die Leute vertrauten ihm, denn schon sein Vater hatte dieses Amt ausgeübt. Er trug einen langen schwarzen Rock, in dessen Taschen stets ein Bündel getrockneter Zweige raschelte, und ein geschnitzter Stab aus Schlehenholz begleitete ihn überallhin.

Im Unterdorf lebte zur selben Zeit ein unscheinbares Kräuterweible, das die Leute nur „die vom Unterdorf“ nannten. Sie wohnte in einem kleinen Haus am Rand der Wiesen. Vor ihrer Tür wuchsen Hagebuttenhecken, und hinter dem Haus ein wilder Garten mit Salbei, Beifuß, Thymian, Schafgarbe und all den Kräutern, die sonst keiner beim Namen kannte. Sie sammelte bei jedem Wetter, kannte die besten Plätze im Wald und am Donauufer und wusste, wann welche Pflanze Kraft hatte – im Morgengrauen, bei Vollmond oder im ersten Frost.

Eines Jahres kam ein besonders harter Winter. Eine Fieberkrankheit ging durchs Land. Im Oberdorf lagen Kinder und Alte wochenlang krank. Der Schlehenmann tat, was er immer tat: Er kochte seine Schlehen, legte kalte Umschläge an, murmelte seine Gebete. Doch der Sud half kaum noch. Die Leute wurden unruhig, flüsterten vor verschlossenen Türen.

Da hieß es plötzlich, im Unterdorf gebe es eine Frau, deren Kräuterträne das Fieber breche. Zuerst schickte man heimlich nur ein Kind hinunter, dann eine Magd, dann eine ganze Familie. Das Kräuterweible mischte Aufgüsse aus Hagebuttenschalen, Lindenblüten und geheimen Kräutern, legte grüne Wickel an und ließ die Kranken lange schwitzen. Und siehe da: Manche standen nach wenigen Tagen wieder auf, denen der Schlehenmann schon die Augen hatte schließen wollen.

Als der Schlehenmann davon erfuhr, packte ihn zuerst der Zweifel, dann der Neid und schließlich die Angst. Wenn seine Kunst versagte und eine Frau aus dem Unterdorf heilte, was sollte dann noch aus seinem Ansehen werden? Er stellte sich nach der Messe vor die Kirche, hob den Schlehenstab und rief laut, dies könne nicht mit rechten Dingen zugehen. Kein Mensch, sagte er, könne so viele Kranke retten, wenn nicht dunkle Mächte im Spiel seien. Die Unterdorfer Kräuterfrau müsse eine Hexe sein.

Die Nachricht verbreitete sich rasch, von Haustür zu Haustür, von Stube zu Stube. Im Oberdorf mied man fortan ihren Namen und sprach nur noch von der „Unterdorfhexe“. Man warnte die Kinder vor ihr, zeigte auf ihr Haus, wenn abends Rauch aus dem Kamin stieg, und erzählte, dass sie im Dunkeln mit den Schatten rede.

Doch die Krankheit fragte nicht nach Gerede. Wenn im Oberdorf einer still im Bett lag, die Stirn heiß und der Atem flach, dann schlichen die Angehörigen in der Nacht hinunter ins Unterdorf. Sie klopften leise an die schiefe Tür, baten um einen Schluck Kräutertrank, um einen Beutel mit getrockneten Blättern. Das Kräuterweible schwieg, hörte zu, mischte ihre grünen und roten Gaben und schickte die Leute wieder heim. Am nächsten Morgen wagten sie es nicht, dem Schlehenmann davon zu erzählen.

Einmal, so erzählt man, brachte man sogar das Kind des Schlehenmanns selbst hinunter. Das Fieber war so hoch, dass er seinen eigenen Schlehensud nicht mehr zu geben wagte. In einer Nacht ohne Mond ging seine Frau den steilen Weg hinab, den Mantel über dem Kopf, in der Hand ein Tuch mit einem kleinen, fiebernden Bündel. Die Unterdorfhexe empfing sie wortlos, legte dem Kind einen Kranz aus frischen Kräutern auf die Brust und gab ihm einen Trank aus Hagebutte und Schlehenblüte. Drei Tage später sprang das Kind wieder im Hof herum.

Der Schlehenmann, so heißt es, habe den Blick nie mehr ganz heben können. Er wusste nun, dass seine Kunst Grenzen hatte. Aber er brachte es nicht fertig, sich vor der Frau aus dem Unterdorf zu verneigen. Stattdessen schwieg er, und sein Schweigen wirkte schwerer als seine früheren Anschuldigungen. Die Leute verstanden: Was er nicht heilen konnte, heilte sie. Und doch war sie im ganzen Ort als Hexe verschrien.

Mit der Zeit starben Schlehenmann und Kräuterweible, wie alle Menschen. Doch die Geschichte blieb. Die Kinder spielten im Herbst zwischen den Schlehenhecken und Hagebuttensträuchern und erzählten sich, dass nachts eine Frau mit grünem Tuch und langem Haar durchs Unterdorf gehe, Kräuter im Arm, den Schlehenmann im Rücken, die Kranken vor sich. Man sagte, sie sehe mit beiden Augen leicht nach innen, um in die Herzen der Leute zu schauen, nicht nur auf ihre Gesichter.

So entstand die Gestalt der Unterdorfhexe:
mit dem Grün der Kräuter, dem Rot der Hagebutten und der Dunkelheit der Schlehen;
die von manchen gefürchtet, von vielen heimlich gesucht wurde;
die im Unterdorf lebt, aber über das ganze Dorf wacht – dort, wo Heilkunst und Misstrauen sich begegneten.

Und jedes Mal, wenn heute zur Fasnet die Unterdorfhexen durch die Gassen ziehen, erinnert ihr Häs an diese alte Sage vom Schlehenmann aus dem Oberdorf und dem Kräuterweible aus dem Unterdorf.

Unsere Chronik

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1982

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